Unlängst habe ich mein Heimkinoequipment einem grundlegenden Upgrade unterzogen. Für das 21. Jahrhundert schien mir ein Fernsehgerät, das HD Auflösung kann, besser geeignet, ferner streamt der moderne Mensch ja Filme direkt aus dem Netz, was mir bisher verwehrt geblieben war. Außerdem darf mir mein DVD Leihdienst ab jetzt diese BluRays schicken. Den erneuerten Spaß am Filmegucken möchte ich gerne nutzen um auf eine (meiner Meinung nach) unterschätzte Gattung des Films aufmerksam zu machen: Den Zeichentrickfilm
Erste Assoziationen sind vielleicht die Disneyklassiker wie Bambi oder Arielle, die Meerjungfrau. Oder auch Hits dieses Jahrtausends wie Toy Story, Shrek oder Ratatouille. Das sind alles schöne Filme, sie sind aber auch Quell für einige schreckliche Stereotypen, die zum Teil lange verhindert haben, dass der Zeichentrickfilm als vollwertige Form neben dem Realfilm und fernab der Kinderfilme wahrgenommen wird. Und das hat er sich verdient, denn mittlerweile gibt es auf ganzer Genrebreite Filme, die per Hand oder digital animiert worden sind. Und andersherum sind derzeit Real-Comicverfilmungen der große Trend, die Umwandlung von Graphic Novels zu Film funktioniert also offenbar gut. Und viele weitere Realfilme (z.B. Matrix von 1999) bedienen sich verstärkt der visuellen Elemente einer Comic oder Anime-Ästhetik. Andererseits sollte also auch der Zeichentrickfilm sich weiterentwickeln und ‘erwachsene’ Themen aufgreifen dürfen.
Eine Auswahl von sieben dieser Filme, die ich zu meinen Lieblingsfilmen zählen würde, habe ich im folgenden zusammengestellt. Für den Anfang gibt’s hier die ersten drei (und hier die nächsten vier), aber aufgepasst: Weil ich nicht annehme, dass der Überraschungseffekt bei diesen Filmen vorrangig für den Genuss verantwortlich ist, wird gespoilert. Wer das nicht möchte, kann einfach nur die Titel und den jeweils letzten Absatz lesen.
Das große Rennen von Belleville (Les triplets de Belleville) (2003)
Das erste Werk von Sylvain Chomet, das es in meine Liste geschafft hat. Hier eine Plotrekonstruktion, die dem Film allerdings kaum gerecht werden kann:
Der kleine Champion ist großer Radsportfan. Er lebt bei seiner Großmutter Souza und ihrem Hund Bruno und bekommt von ihr ein Kinderfahrrad geschenkt, mit dem er fortan trainiert. Viele Jahre später hat man direkt am Haus vorbei eine Zugstrecke gebaut und Bruno hat gut zu tun, den vorbeifahrenden Zügen nach zu bellen. Champion ist mittlerweile ein junger Mann und hat keinen sehnlicheren Wunsch als bei der Tour de France mitzufahren. Dafür trainiert ihn Souza tagein tagaus und bereitet ihn insbesondere auf die schwierigen Anstiege vor.
Tatsächlich kommt der große Tag und Champion fährt im Feld der Tour de France. Der Bergfahrt in Richtung Marseille ist er aber dann doch nicht ganz gewachsen. Unterdessen sammelt die französische Mafia, verkörpert durch nahezu gesichtlose Schränke von Männern, die erschöpften Fahrer mit einem gefälschten Besenwagen ein. Souza im echten Besenwagen nimmt die Verfolgung ihrer Enkels auf, kann aber letztendlich nur zuschauen, wie die Mafia ihn auf ein Schiff am Hafen verschleppt und aufs Meer hinausfährt. In einem gemieteten Tretboot fahren Souza und Bruno hinterher und folgen dem Schiff bis nach Belleville. Hier sollen Champion und die anderen Fahrer für die Mafia auf einer Radfahrkonstruktion um die Wette radeln während die Gäste auf sie wetten können. Für Souza allerdings verliert sich die Spur und ohne Geld in der fremden Stadt scheint die Lage hoffnungslos. Doch dann treffen Sie auf drei ehemalige Showstarts, das Drillingsgespann Les Triplets des Belleville, die am Rande der Stadt wohnen, mit Handgranaten Frösche für’s Abendessen fangen und sich sonst mit kleineren Auftritten über Wasser halten. Souza wird von den drei älteren Damen aufgenommen, teilt mit ihnen Couch und Froschschenkel und tritt mit ihnen auf. Bei einem Konzert treffen Sie den Chef der französischen Mafia und Bruno erkennt an seinem Taschentuch Champions Geruch. Daraufhin wird Souza aufmerksam, verfolgt den Baumeister der eigenwilligen Radkonstruktion und stiehlt ihm die Pläne. So findet sie heraus wo Champion ist und zusammen mit den Triplets macht sie sich auf ihn zu befreien. Vor den Augen der Mafiagangster löst Sie die Verankerung der Radfahrmaschine und womit dann eine wahrhaft spektakuläre Flucht vor den Kastenmännern durch die nächtlichen Straßen Bellevilles beginnt.
Nicht nur, dass der Film in seiner ganz eigenen Stilistik liebevoll gezeichnet ist, er kommt außerdem fast vollständig ohne Dialog aus. Der Film ist durchsetzt mit Sarkasmus, Traurigkeit, Scheitern und einigen kulturellen Referenzen einer vergangenen Generation. Ganz großes Kino mit wahnsinnig schrägen Charakteren in einer skurrilen Welt. Rottentomatoes vergibt als Wertung satte 94%, der Metascore liegt bei 91. Vollkommen zurecht.
Der Illusionist (L’illusioniste) (2010)
Der zweite Film von Sylvain Chomet in dieser Liste. Und doch ganz anders: Ein Zauberer aus Paris mit dem Künstlernamen Tatischeff tritt im Londoner “Emporium” auf, muss dort aber auch bald wieder die Segel streichen, weil er mit seinen doch etwas altbackenen Illusionen gegen die großen populären Stars nicht ankommt. Er tingelt durch Festivals bis er von einem Schotten das Angebot bekommt, für ihn in der Dorfkneipe auf einer schottischen Insel aufzutreten. Wegen des Geldes nimmt er den Job an und macht sich auf die Reise. Dort begegnet ihm Alice, die auch in der Kneipe arbeitet und von Tatischeff verzaubert ist. Im wahrsten Sinne des Wortes glaubt sie auch aufgrund von zufälligen scheinbar magischen Ereignissen, er habe tatsächlich magische Kräfte. Sie reinigt ihm die Wäsche, er bedankt sich mit neuen Schuhen bei ihr. Als der Zauberer wieder abreist, folgt sie ihm nach Edinburgh. Zusammen kommen sie in einer Künstlerpension unter und Tatischeff versucht, ein neues Engagement zu finden. Gleichzeitig will er aber auch Alice ihre Wünsche z.B. nach neuen Kleidern erfüllen, die sie unverblümt äußert in der Annahme, der Zauberer erfülle Sie mit Leichtigkeit. Tatsächlich gibt er für sie sein letztes Geld aus während er durch Auftritte kaum noch Geld verdient und letztendlich seine Zauberausrüstung verpfänden muss. Ähnlich ergeht es auch anderen Künstlern in der Herberge: Ein alter Clown will sich das Leben nehme, drei Akrobaten müssen den Job wechseln und ein alter Bauchredner versetzt seine Puppe und wird zum Alkoholiker. Alice scheint von den Problemen um sie herum nichts mitzubekommen, sieht nur die bekannten Gesichter verschwinden. Auch der Zauberer traut sich nicht, ihr seine Probleme zu gestehen. In ihrem neuen Look erregt Sie die Aufmerksamkeit des gutaussehenden Nachbarn und sie verlieben sich. Währenddessen muss der Zauberer einen erniedrigenden Job annehmen, bei dem er im Schaufenster eines Kaufhauses mit Wäschestücken zaubert. Aus Stolz kündigt er und als er Alice mit ihrem Freund sieht, beschließt er die Stadt zu verlassen. Er hinterläßt ihr einen Brief mit den Worten: Magier existieren nicht.
Der Film basiert auf einem unverfilmten Drehbuch des französischen Schauspielers und Autors Jacques Tati aus dem Jahre 1956. Trotz des unverkennbaren Stils von Chomet ist der Film auf eine ganz andere Art magisch als sein vorheriger Film, auch wenn das Thema der Künstler, deren Zeit vorüber scheint, wieder auftaucht. Wiederum kommt Dialog nur sparsam zum Einsatz. Weshalb auch die Plotrekonstruktion im Grunde nur eine Interpretation ist. Kritiker lieben den Film, Rottentomatoes gibt ihm daher eine Wertung von 90%, der Metascore liegt bei 82. Absolut empfehlenswert.
Interstella 5555: The 5tory of the 5ecret 5tar 5ystem (2003)
Ohne, dass ich es beabsichtigt hätte, kommt hier noch ein Film, der keinen Dialog enthält. Interstella 5555 ist eine Kollaboration des französischen Musikduos Daft Punk mit Leiji Matsumoto von Toei Animation, bekannt wegen diversen Anime und Mangaserien. Der Film besteht aus allen Musikvideos zu den Songs des Albums Discovery, einige der Videos (z.B. One more Time, der erste Titel des Films) liefen damals auch als Clips im Musikfernsehen. In Reihenfolge richtig zusammengesetzt ergeben Sie aber tatsächlich eine Story:
Eine Gruppe blauhäutiger Musiker auf einem weit entfernten Planeten geben ein Konzert und spielen “One more time”, als plötzlich eine humanoide Streitmacht auftaucht, alle Bewohner mit Gas ruhigstellt und die Band entführt (“Aerodynamic”). Fernab des Planeten träumt Shep von der Basspielerin Stella, als ihn der Notruf des Planeten erreicht und er sich aufmacht, die Band zu retten. Er folgt dem fremden Schiff durch ein Wurmloch zur Erde und stürzt dort in einem Wald ab. (“Digital Love”) Währendessen wird die Band in einem automatisierten Prozess ihrer Alienerscheinung beraubt und man löscht ihr Gedächtnis. Außerdem bekommen sie scheinbar zur Kontrolle Kopfbänder angelegt (“Harder, Better, Faster, Stronger”). Ihr Entführer Earl de Darkwood betätigt sich als Manager, bringt die Band ins Studio und macht einen Vertrag. Ihr Hit “One more time” schlägt voll ein und die “Crescendolls”, wie die Band ab da heisst, werden ein weltweites Phänomen (“Crescendolls”). Doch der große Erfolg hat auch seine Schattenseiten, die Band ist erschöpft vom dauernden Signieren von Merchandising. Shep wandert währenddessen suchend durch die Nacht (“Nightvision”).
Bei einem späteren Auftritt der Band fliegt Shep in die Arena und zerstört mittels eines Signals die Kontrollgeräte aller Bandmitglieder außer Stella. Sie müssen sie zurücklassen und fliehen mit Shep vor den Bodyguards. Bei der folgenden Jagd kommt es zu einem Unfall bei dem Shep tötlich verwundet wird (“Superheroes”). Stella ist später auf einer Preisverleihung, für den die Crescendolls nominiert sind und kann dort heimlich durch die übrige Band befreit werden (“High Life”). Alle versammeln sich um den sterbenden Shep und dieser enthüllt die wahre Identität der Band kurz bevor er stirbt (“Something about Us”). Aus Dankbarkeit begraben sie ihn unter einem großen Baum. Auf ihrer Fahrt zurück kommen Sie an “Darkwood Manor”, einer düsteren Villa, vorbei und beschließen, das Haus näher zu untersuchen. Sie entdecken das Tagebuch Veridis Quo, welches detailliert die Pläne des Earl erklärt. Er hat unzählige Aliens entführt um goldene Schallplatten mit ihnen zusammen. Wenn er davon 5.555 bekäme, könne er eine sagenhafte Macht entfesseln. Die Crescendolls selbst haben ihn zur letzten nötigen Platte verholfen. Die Band wird von Wachen gefangen genommen und zum Earl gebracht, kann sich aber befreien, wobei der Earl scheinbar getötet wird und das Haus sich zerstört. (“Veridis quo”) Sie kehren ins Studio zurück, wo sie unter dem Masterband ihres Hits ihre gelöschten Erinnerungen finden. Ein Musiker wird aber durch einen Taser getroffen und bekommt aufgrund des Stromschlags seine ursprüngliche Körperfarbe zurück. Die Herkunft der Band wird nun jedem klar (“Short Circuit”).
Der Verleger informiert die Öffentlichkeit, dass die Crecendolls Aliens sind und die Band bekommt Alienaussehen und Gedächtnis zurück. Außerdem repariert man Sheps Raumschiff, damit sie zu ihrer Heimat zurückkehren können (“Face to Face”). Auf der Heimreise durch das Wurmloch wird’s nochmal kurz spannend, dass verrate ich jetzt einfach mal nicht (“Too long”). g Der Film endet, indem ein kleiner Junge gezeigt wird, der vor dem Plattenspieler eingeschlafen ist und um sich herum alles an Crescendolls und Daft Punk Merchandise liegen hat, dass es so geben dürfte.
Was französischer Elektro-Sound und japanischer Animefilm doch alles zustande bringt. Dieses Musical hat meiner Meinung nach nicht die angemessene Aufmerksamkeit erfahren. Schon die Prämisse komplett ohne Sprache zu arbeiten und die Geschichte anhand der Songs zu stricken scheint bislang einzigartig. Sicherlich ist die Story dafür auch nicht tiefschürfend komplex, geht andererseits doch aber auch weit über die typischen Inhalte von Musikvideos hinaus. Und immerhin steckt ja doch auch einiges an Medienkritik drin. Den Kritikern hat der Film auf alle Fälle gefallen, bei Rotttomatoes gibt es darum 86% (die Publikumswertung liegt mit 93 noch darüber). Wieder gilt, wer mit extravaganten Filmformaten und Elektromusik umgehen kann, findet ihr ein faszinierendes Kleinod.
Beim nächsten Mal…
…gibt’s weitere Zeichentrickfilme, die sich auch oder ausschließlich an Erwachsene richten. Beschäftigen werde ich mich dann mit Richard Linklaters “Waking Life”, “Prinzessin Mononoke”, “Die letzten Glühwürmchen” und “Persepolis”. Bis dahin würde ich mich über andere Filmvorschläge oder Gedanken zu den bisherigen Werken in den Kommentaren natürlich sehr freuen.