Mein Lieblingsgenre zum Lesen ist Science-Fiction, auch wenn mir, glaube ich, das Schreiben da noch eher schwer fällt. Aber man kann’s ja weiter versuchen. Wie unten angegeben stammt diese Kurzgeschichte aus 2008 und wurde auch schon mal in diesem Blog veröffentlicht (unter dem Titel “Unter Zeitdruck”), das hatte ich aber offenbar übersehen. So ist das manchmal…
“Wo ist Narius”, hallt es durch die Hallen des Großraumbüros. Ich wache auf von meiner Mittagspause und steige aus der Ruheschale, um zu meinem Schreibtisch zurückzukehren. Narius ist nicht da.
Narius hatte sich diese Zeitmaschine gekauft. Jetzt war er schon seit Wochen damit beschäftigt, Ereignisse in seinem Leben zu ändern, die seiner Meinung nach falsch gelaufen waren. Er sah seine Lifelogs durch und markierte alle Zeitpunkte, bei denen er sein Verhalten ändern wollte. Zunächst sprang er ohne große Vorbereitung dann dorthin und händigte seinem vergangenen Ich – er nannte ihn den Früheren – Notizkarten mit Anweisungen für bestimmte zukünftige Situationen aus. Nach denen, so dachte er, würde er sich schon richten und es hatte bei den ersten paar Malen auch bestens geklappt. Beispiel: Weil ihn in der vierten Klasse ein Idiot aus der fünften bedroht und verprügelt hatte und er daraufhin die Schule wechseln musste, hatte er seinem Früheren ein paar Selbstverteidigungsgriffe gezeigt. Nachdem der Rowdy sich dann eine blutige Nase geholt hatte, schien das Problem gelöst. Kleinigkeit!
Im Jugendalter ließ er sich offenbar noch etwas sagen. Aber dann stellte sich heraus, dass er sich selbst offenbar nicht so gut kannte oder sich zumindest nicht mehr sehr gut an sich selbst erinnern konnte und so hatte es immer intensivere Diskussionen mit seinem Alter Ego gegeben, weil er es hasste von sich selbst ins Handwerk gepfuscht zu bekommen. Wer würde das schon wollen? Und durch jede Veränderung in der Vergangenheit änderte er ja auch irgendwie Teile seines Charakters.
Mittlerweile, so hatte Narius an einem Abend in der Bar platt berichtet, nahm der Frühere die Hinweiskarten kommentarlos von sich selbst entgegen und überarbeitete sie einfach heimlich, was natürlich überalbern war, hinterher wußte er es ja eh, er konnte sich beim besten Willen nicht selbst betrügen, dass ließ schon die Software nicht zu.
Das war aber egal, solange die Änderung der Vergangenheit die erwünschten Erfolge brachte. War das nicht der Fall, wiederholte er die Prozedur einfach. Immer und immer wieder.
Er doktorte in der Tat solange an einem Ereignis herum, bis er zufrieden oder aber endlos frustriert war und entnervt aufgab. Genau so stand es auch in der 12.000-seitigen Bedienungsanleitung im 120. Kapitel mit dem Titel “Nutzungsphilosophien”. Hier wurde eindeutig davon abgeraten, zu intensive Eingriffe an der eigenen Zeitlinie vorzunehmen, daraus entstehende Endlosschleifen und Paradoxien würden von der Garantie nicht abgedeckt.
Für dieses Spielchen ging viel Echtzeit drauf, denn auch wenn der Zeitsprung für den Rest der linearen Welt kaum ein paar Sekunden währte, für Narius waren es lange und oft strapaziöse Reisen, manchmal trieb er sich Tage in der Vergangenheit herum. Den Rest der Zeit, die er nicht arbeitete, schlief er meist oder simulierte Zeitlinien. Wir, also seine Freunde und Kollegen, bekamen ihn kaum noch zu Gesicht. Und jetzt war er auch nicht zur Arbeit erschienen. Er büßte offenbar immer mehr von seiner Selbstständigkeit ein. Klar, immerhin hatte er sein Leben lang Anweisungen von sich aus der Zukunft erhalten. Erst in der letzten Woche hatte er sich selbst wieder einmal bei einem Date beeinflusst, dass vor 12 Jahren mehr als nur schief gelaufen war. Worum genau es dabei gegangen war, hatte er nicht erzählt, aber offenbar hatte es sein Frauenbild massiv beeinflusst und war demnach zu einem bestimmenden Kriterium bei der Auswahl weiblicher Beziehungen geworden, die sich letztendlich regelmäßig als wenig zufriedenstellend entpuppten. Tagelang hatte er Dialoge ausgetüftelt und mit diversen Laiendarstellerinnen und ehemaligen Freundinnen die Situation geprobt, um die Auswirkungen einschätzen zu können und immer wieder rechnete er die Chancen auf eine veränderte Zeitlinie durch.
Etwa sechsmal war er dann am selben Tag durch die Zeit gereist und hatte seinem Früheren quasi einen Roman an Notizen übergeben, lange Diskussionen geführt, aus denen beide ein Konsenspapier entwickelten, dass letztendlich für die Situation verwendet werden sollte. Ziel sollte es sein, dass Narius entlastet von diesem traumatischen Ereignis zukünftig glücklichere Beziehungen haben sollte, vielleicht sogar andauernde. Wir hatten auch alle gehofft, dass er dann endlich mit diesem Zeitreisequatsch aufhören würde. Noch bevor er das Ding besaß, hatte er uns erzählt, wie man damit tolle Wochenendausflüge in die Renaissance oder an das Ende des letzten Jahrtausends machen könnte. Das er so eine Besessenheit entwickeln würde, hätte hier keiner gedacht.
Oft hatte er schon darüber geschimpft, dass sich seine Eltern für eine dieser altmodischen Naturgeburten entschieden hatten. Das Wort Natur läßt hier allerdings einen leicht irreführenden Eindruck entstehen, tatsächlich ging die Geburt nicht im Wortsinne natürlich von statten, es wurden zahlreiche genetische Veränderungen vorgenommen, um ernsthaften Krankheiten vorzubeugen und die üblichen Erweiterungen vorzunehmen, zum Beispiel die genetische Verkürzung der Schwangerschaft auf 3 Wochen, die heute allgemein üblich – weil einfach weniger schmerzhaft für die Mutter – war. Allerdings hatten seine Eltern auf weitergehendes genetisches Design komplett verzichtet. Kein vorimplantiertes Wissen, keine verbesserte Sinneswahrnehmung, keine Wachstumsbeschleuniger. Narius war nun 29 Jahre alt und sah tatsächlich aus wie 29. Das war auch in der Firma schon immer ein Kuriosum gewesen. Und es hatte ihn immer geärgert, er fühlte sich deswegen wohl ausgegrenzt.
Ziemlich geschafft kam Narius dann am späten Abend von seinem letzten Meeting zurück und legte sich erwartungsfroh aber erschöpft in die Falle.
Als er am nächsten Morgen aufwachte fühlte er sich schon ganz wohl, aber spürte noch keine deutlich definierbare Veränderung. Er kam in die Firma, war überaus entspannt. Tatsächlich plauderte er enthemmt mit diversen Mitarbeitern in der Mittagspause und ging abends auch noch mit in die Bar, was er sonst sehr selten tat. Erst als er am nächsten Morgen neben Charles aus der Buchhaltung aufwachte, wurde ihm klar, dass er aufgrund seines Eingriffes in die Vergangenheit offenbar die Fronten gewechselt hatte. Sein Neurochip hatte die Aufzeichnung seiner Heterovergangenheit zur Gewöhnung einige Zeit blockiert, nun war es ihm aber bewusst und es gefiel ihm kein bißchen. Wir haben noch alle versucht, ihn davon zu überzeugen, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, aber letztendlich erschien ihm das nicht zu dem Charakterbild zu passen, dass er online von sich entworfen hatte und das Grundlage für die zahlreichen temporalen Eingriffe war.
Er war dann überstürzt aufgebrochen, sicherlich wollte er durch eine weitere Zeitreise diese Veränderung wieder aufheben. Das war gestern Abend und heute war er dann nicht zur Arbeit gekommen.
Ich aktivierte mein Neurointerface und versuchte ihn zu erreichen, leider erfolglos. Dann hackte ich seine Logs und stellte fest, dass er in der Tat vor 6 Stunden abermals einen Zeitsprung gemacht hatte. Seit diese ganzen Zeitmaschinen zum Trend geworden waren, hatte man alle Neurointerfaces mit diesem Zeitrahmenbackup ausgerüstet, damit Veränderung anderer persönlicher Zeitlinien nicht ungefiltert durchgereicht wurden, denn das würde das Gehirn bis zur Schmerzgrenze belasten. Ich meine, ich würde  ich normalerweise nicht an den Narius aus der vorherigen Zeitlinie erinnern, wenn der etwas in seinem Leben ändert. So aber blieb mir diese Erinnerung teilweise erhalten und Änderungen wurden erstmal weggespeichert. Bei dem temporalen Chaos das nahezu überall herrschte, war das schon eine echte Hilfe.
Ich studierte also meine Diff-Liste und stelle fest, dass meine Erinnerung an Narius nur noch auf dem Backup existierte. In der realen Welt war Narius vor 12 Jahren ermordet worden, erstochen mit einem silbernen Dreizack. So einen hatte ich Narius letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt, er hatte immer eine Schwäche für maritime Devotionalien gehabt, obwohl er sich sonst gar nicht so sehr für Geschichte interessierte. Ich versuchte noch weitere Informationen über den Vorfall abzurufen, musste dann aber wichtige Steuerunterlagen vorziehen, die in dreizehn Minuten fällig waren.
Der virtuelle Chronometer schlug an, es war Zeit für meine Nachtruhe. Es war gar nicht Nacht, aber die Überwachung meiner Biowerte, der Hirnwellen und allem, ließ das Interface immer den perfekten Zeitpunkt und die nötige Dauer für eine Ruhephase ermitteln. Ich schob mich an der Schlange vor dem Kaffeeautomaten, der eigentlich natürlich gar keinen Kaffee mehr ausschenkte sondern mehr der Kommunikation diente, vorbei in die Ruhehalle und die Kapsel brachte mich zur nächsten freien Schale.
Als ich 5 Stunden später wieder erwachte und ins Büro kam, saß Narius an seinem Schreibtisch und sah gerade seine Mails durch. Ein kurzer Check seines Lifestreams zeigte, dass er vor drei Stunden als Clon wiedererweckt worden, dann vor Gericht wegen vorsätzlichen Mordes zu einer Arbeitsstrafe von 150 Jahren verurteilt worden war und diese Strafe in sein Neuroprofil eingespielt bekommen hatte, mit allen Erinnerungen, als hätte er die Strafe tatsächlich selbst erlebt. Weil es ein temporales Vergehen gewesen war, hatte ihn das Gericht außerdem zu 100 Stunden bei den anonymen Zeitreisenden verdonnert, seine Zeitmaschine durfte er aber behalten.
Am selben Abend lud Narius die Bürogemeinschaft ein. Wir reisten in das Jahr 1943 und bekämpften die Nazis auf Seiten der französischen Résistance. Die meisten wollten unbedingt an die Waffen und metzelten drauf los, ich hingegen hielt mich im Hintergrund am Funkgerät. Irgendwie machte mich der Gedanke traurig, dass diese Leute sich nicht aus Klonen wiederbeleben lassen konnten. Narius blieb ebenfalls zurück und organisierte den Nachschub. “Hoffentlich wird nächste Woche nicht auch so stressig”, sagte er zu mir. “Ich befürchte doch”, antwortete ich. “Nächste Woche kommen die Steuerfachunterlagen der nächsten Generation.” Das würde sicher ein Haufen Arbeit werden.
started 27.09.08 23:30 /Â finished 29.09.08 15:50
Foto: Time Machine Clockwork by Pierre J. via flickr